Gobierno de la ciudad de Buenos Aires

Hospital Neuropsiquiátrico "Dr. José Tiburcio Borda"

Laboratorio de Investigaciones Electroneurobiológicas

y Revista

Electroneurobiología

ISSN: ONLINE 1850-1826 - PRINT 0328-0446

Das Intellektuelle Argentinien und seine Beziehungen zur romanischen und germanischen Kultur

 

von

 

Christfried Jakob

Vorstand der path. Institute für Nerven- und Geisteskrankheiten
an der Universität Buenos Aires (vixit: 1866-1956)

 

Original: Veröffentlichungen des Deutsch-Argentinischen Centralverbandes zur Förderung wirtschaftlicher Interessen. Heft 2., ss. 1-21, 1912 (Süd- und Mittel-Amerika-Verlag G. m. b. H. Berlin SW. 11, Bernburger Straße 30). Original Druck: Berliner Buch- und Kunstdruckerei, G. m. b. H., Berlin SW. 48 — Zossen

 

 

Electroneurobiología 2008; 16 (1), pp. 3-21; URL http://electroneubio.secyt.gov.ar/index2.htm

 

 

Copyright © February 2008 Electroneurobiología. Diese Forschungsarbeit ist öffentlich zugänglich. Die treue Reproduktion und die Verbreitung durch Medien ist nur unter folgenden Bedingungen gestattet: Wiedergabe dieses Absatzes sowie Angabe der kompletten Referenz bei Veröffentlichung, inklusive der originalen Internetadresse (URL, siehe oben). / Este texto es un artículo de acceso público; su copia exacta y redistribución por cualquier medio están permitidas bajo la condición de conservar esta noticia y la referencia completa a su publicación incluyendo la URL (ver arriba). / This is an Open Access article: verbatim copying and redistribution of this article are permitted in all media for any purpose, provided this notice is preserved along with the article's full citation and URL (above).

Published: 14 February 2008

 

 

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Christfried Jakob: Das Intellektuelle Argentinien und seine Beziehungen zur romanischen und germanischen Kultur. Deutsch-Argentinischen Centralverbandes zur Förderung wirtschaftlicher Interessen

ABSTRACT: This essay – a brief portrayal of the Argentinian society, presented in 1912 by Christfried Jakob in Berlin – provides a remarkable historiographic indication by its significative silencing of all the Argentinian intellectual attainments not owed to ideological progressive ("progressist") agents. In fact the activity, trend, and value of those neglected elements were to become encouragingly appreciated by Jakob only in his later years. It happened on the extended dialogue with his disciples that introduced him to the evolution of positivism chiefly in Italy (pointing among others to the young Giovanni Marchesini of 1902, then Giuseppe Tarozzi, then Rodolfo Mondolfo; all three acknowledged semovience or the subject's ability to start new causal series and Mondolfo's philosophy of the social praxis put the subject's activity in the center of every perceptual cognition, a "positive fact" of reality whose neurobiological reading deeply resignifies the ordinary, yet crucial clinical observation of the amnesiacs' recovery), and with those disciples participating in the Peronist decade and the values it embraced (referred to the subordination of "progress" to people's meaningful existence). This essay thus marks, in Jakob's intellectual itinerary, a station in which the Europe-centered outlook still was dominant in his observations.

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RESUMEN: Este ensayo, breve retrato de la sociedad argentina presentado en 1912 por Christofredo Jakob en Berlín, brinda un notable dato historiográfico con su significativo silenciamiento de todo logro intelectual argentino no adeudado a los agentes ideologicamente progresistas. Sólo en sus últimos años apreciaría Jakob de modo favorable la actividad, tendencias y valor de los elementos así puestos de lado. La mudanza tuvo lugar en el extendido diálogo con los discípulos suyos que lo introdujeron en la evolución del positivismo, especialmente del italiano (señalándole entre otros al joven Giovanni Marchesini de 1902, a Giuseppe Tarozzi y a Rodolfo Mondolfo; los tres reconocían la semoviencia y la filosofía de la praxis social de este último centra todo proceso cognoscitivo perceptual en la actividad del sujeto, un "hecho positivo" de la realidad cuya lectura neurobiológica resignifica en profundidad la observación clínica, frecuente pero crucial, del recobro de las amnesias), y con aquellos discípulos que participaron de la década peronista y las valoraciones que abrazaba (referidas a subordinar el "progreso" a la existencia con sentido de la gente). Este ensayo así marca, en el itinerario intelectual de Jakob, una etapa en que la perspectiva europeizante aún dominaba.

[Original: Anfang, Seite 3]    

Im Entwicklungsgange aller Kulturvölker wiederholen sich ganz parallel mit demjenigen des einzelnen Menschen zwei Erscheinungen in gesetzmäßiger Folge: die Übernahme und Aneignung der Kulturwerte älterer Nationen kennzeichnet die Jugendperiode, und erst geraume Zeit nach der Assimilation dieser fremden Werte folgt im inneren Zusammenhange damit die Epoche des selbständigen Schaffens, der Eigenproduktion. So war es bei den alten asiatischen und bei den europäischen Völkern, griechischer, romanischer oder germanischer Abstammung, so vollzieht sich auch derselbe Prozeß bei den jungen amerikanischen Nationen.

Die Beobachtung und Würdigung dieser Reifeprozesse ist nun nicht nur von geschichtlichen, völkerpsychologischen oder sozial-biologischen Standpunkten aus von hohem wissenschaftlichen Interesse — sie steht auch mit dem materiellen Leben und Treiben der Völker und ihrer wechselseitigen Verknüpfung durch Handel und Industrie im allerinnigsten Zusammenhang. Denn so wenig sich beim einzelnen Menschen physische und psychische Vorgänge getrennt erfassen und behandeln lassen, so wenig geht dies im Leben der Völker; auch hier ist beides in der engsten organischen Verbindung, und jede Vernachlässigung der einen Seite rächt sich mit Naturnotwendigkeit früher oder später auf der anderen. Festen Fuß faßt im Leben eines fremden Volkes nur die Nation, die es versteht, durch geistigen Wertaustausch einen Einfluß auf dessen inneren Entwicklungsgang zu gewinnen und sich so [— S. 4 —] seine bleibende Achtung und Sympathie zu sichern.

Der Deutsch-Argentinische Zentral verband zur Förderung wirtschaftlicher Interessen, handelt somit in wohlverstandenem Eigeninteresse, wenn er sich auch die Pflege dieser intellektuellen Austauschgüter mit zur Aufgabe macht, wenn er es versteht, als Gegengewicht für die vielen Tausende von Tonnen ponderabler Güter, die zwischen Argentinien und Deutschland kreisen, auch diese Imponderabilien, die doch auf die Dauer schwerer wiegen, verständnisvoll zu beachten und sie zu erhalten und zu fördern hilft.

Wenn wir nun in diesem Sinne auf das intellektuelle Leben der argentinischen Nation und seine Beziehungen zur europäischen Kultur blicken, müssen wir uns nach dem Gesagten durchaus vergegenwärtigen, daß es sich um die Jugendepoche dieses Volkes handelt, und es somit gänzlich verfehlt wäre, dortige Verhältnisse in Vergleich mit solchen der jetzigen europäischen größeren Kulturstaaten zu bringen : organische Entwicklungsprozesse sollen nur mit adäquatem Maßstabe gemessen werden. Trotzdem dürfte sich manches Lehrreiche auch für unser deutsches Kulturleben — wir sind ja ebenfalls noch ein junger Staat, und auch die Völker lernen nie aus ! — aus unseren Betrachtungen ergeben, wenn es auch natürlich nicht möglich ist, im Rahmen eines Vortrages alle Phasen des geistigen Lebens in der argentinischen Republik in gebührender Ausführlichkeit zu beleuchten.

Der Stamm der argentinischen Bevölkerung ist wie in Chile, Uruguay und den anderen südamerikanischen Staaten mit Ausnahme Brasiliens spanischer Abkunft. Er hat sich im Laufe der auf die erste Ansiedlung folgenden Jahrhunderte langsam vermehrt, hat auch im Gegensatz zu anderen Staaten die Reinheit seines Blutes wenigstens in den höheren Klassen zu wahren gewußt, während in den niederen Bevölkerungsschichten, insbesondere der Provinzen, Indianerblut über‑[— S. 5 —]all, besonders stark im Norden eingedrungen ist. Dagegen ist eine Vermischung mit dem Neger überhaupt nicht erfolgt, Mischlinge dieser Art gibt es in Argentinien so gut wie gar nicht, ein Rassenkampf existiert daher dort glücklicherweise überhaupt nicht. Demnach müßten die Hauptcharaktere dieser Stammesbevölkerung denen entsprechen, die uns die Geschichte als spanische Nationalzüge anzugeben pflegt: stolze Verschlossenheit, fatalistische Schwermut, träumerische Trägheit, egoistische Selbstzufriedenheit in der Ruhelage des Gemütes, feuriger Wagemut, grausame Sinnenlust in der Erregung. Aber diese ursprünglichen Rasseeigenschaften haben auf dem einer Weiterentwicklung keinerlei Schranken setzenden, freien amerikanischen Boden viel von ihrer Schärfe verloren. Die Vermischung mit dem Ureinwohner hat den sehnigen, anspruchslosen, ausdauernden und scharfsinnigen (im körperlichen Sinne) Gauchotypus mit hervorgebracht, und gerade aus den nördlichen Provinzen stammt ein zu disziplinierter Arbeit und moralischer Lebensweise besonders neigender Bevölkerungsanteil. So zeigt uns schon die Periode des Befreiungskampfes von der engherzigen, egoistischen Aussaugungspolitik Spaniens, den mit unter den ersten die argentinische Bevölkerung zu Anfang des vorigen Jahrhunderts begonnen und bis zum siegreichen Ende ausgefochten hat, eine Reihe von neuen Charakterzügen: aufopfernde Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind, Uneigennützigkeit in der Hilfeleistung, ausdauernde Energie in schwierigen Situationen.

Von der Mitte des verflossenen Jahrhunderts an beginnt nun ein neuer Abschnitt in der Entwicklung des argentinischen Staates: die II. Einwanderungsperiode, in der das Land sich zurzeit noch befindet und die im Gegensatz zur ersten gemischtnationiger Natur ist. Hatte der amerikanisierte, ursprünglich rein spanische Stamm es verstanden, sein politisches Gleichgewicht zu finden — so war er doch nichtimstande gewesen, die ökonomische Entwicklung des Landes in die Hand zu nehmen, dazu fehlten ihm die Neigung zu körperlicher Arbeit, die Vorbildung, das Organisations‑ [— S. 6 —] und Verwaltungstalent, die Geduld und die Sparsamkeit. Der wirtschaftliche Aufschwung beginnt denn auch erst mit dieser zweiten Einwanderung, die zunächst noch meist spanischer, bald aber in immer stärker werdender Anzahl italienischer Herkunft ist. Diesen Italienern nun verdankt-Argentinien die Grundlage seines jetzigen Reichtums: die extensive Bodenbearbeitung, und damit der Beginn einer rationelleren Viehzucht und des Getreidebaues, war fange Jahre hindurch ausschließlich und ist auch zur Zeit noch zum weitaus überwiegenden Anteil das Werk italienischer Arbeitskraft. Der Estanciero spanischer Nationalität betrieb seine Viehzucht bis zur Mitte des Jahrhunderts in patriarchalischer, wenig rationeller Weise, d. h. er ließ es eben gehen, wie's ging. Feldfrüchte zog er nur im Gartenhau. So benötigte er wenig Dienstleute, deren Reitkunst aber auf den ebenen, weit ausgedehnten Bezirken auch die wildesten Stiere zu bändigen wußte. Erst der italienische Arbeiter wandelte jetzt diese Pampaflächen in Ackerland um, und der Besitzer, der früher mit seinen Erträgnissen eben seinen Haushalt bestritt, sah sich plötzlich reich, seine Rente, sein Kapital hatte sich — dank fremder Arbeit — ins vielfältige vermehrt. Diese sprunghafte Entwicklung, die zum Verständnis vieler argentinischer Zustände, insbesondere eines gewissen parvenühaften Wesens, auch für heute stets im Auge zu behalten ist, wurde noch unterstützt durch das Eingreifen einer zweiten Nation, der Engländer, die mit kaufmännischem Scharfblick durch ihr Kapital und ihr technisches Können in wenig Jahrzehnten ein weit ausgedehntes Eisenbahnnetz schufen, das ihnen die finanzielle Beherrschung des Landes auf lange Zeit hinaus garantiert. Der erwachende Handel, an dessen Betrieb jetzt auch deutsche Kräfte mehr und mehr Anteil nehmen, an dem bald Schiffahrtsgesellschaften aller Länder sich beteiligten, der riesig anwachsende Export und Import usw., alles das ist zu bekannt, als daß ich Ihnen darüber mehr zu sagen hätte; ich mußte nur in kurzen Zügen diese Entwicklung charakterisieren, da sie die Basis der folgenden Ausführungen bilden. — 7 —

Die argentinische Nation, so wie sie sich heute präsentiert, ist demnach noch keine homogene Einheit. Politisch dominiert noch der alte spanische Stamm, ökonomisch der italienische Arm, finanziell das englische Kapital; im Haushalt begegnen wir der nicht eben emsigen Hand des neu eingewanderten spanischen Dienstboten, im Handel und in der Technik ringt sich das deutsche Element immer kräftiger auf den ihm gebührenden Platz empor, im Gebiete der Mode und des Luxus ist der Franzose ausschlaggebend, die Beherrschung des Fleischmarktes erstrebt der Nordamerikaner; Russen, Juden, Buren bilden eigene kleinere Koloniebezirke. Alles das ringt noch neben- und gegeneinander; die Zeit zum Ausgleich der Gegensätze ist eben noch zu kurz. Kollisionen sind daher unvermeidlich und notwendig.

Um dieses Nationalitätengewimmel schlingt sich nun als gemeinsames Band: die spanische Sprache. Sogar der Engländer lernt dort, wenigstens in der zweiten Generation, spanisch sprechen, und nur der Franzose lernt es nie — er hat es nicht nötig. Das Spanische hat sich von allen romanischen Sprachen noch die meiste Ähnlichkeit mit seiner Muttersprache, dem Lateinischen, bewahrt. Die Kürze und Treffsicherheit des Ausdruckes, die leichte Aussprache, der Wohlklang, die einfache Syntax bewirken, daß jeder Ausländer schon nach kurzem Aufenthalt das „idioma national" sich aneignet. Dabei entfernt sich dasselbe von dem klassischen Spanisch mehr und mehr in der Aussprache, dem Wandel der Bedeutung und der Auswahl des überkommenen Wortschatzes, in der Aufnahme neuer Wörter aus dem Italienischen und Englischen (bes. die Sportausdrücke stammen daher, ganz ähnlich wie im Deutschen). Aus dem Deutschen sind aufgenommen: „el Reichstag" und „el Kaiser"; unser Kaiser ist überhaupt, mit Stolz sei es gesagt, in Argentinien der populärste Mann. Es wird schon jetzt der rein Spanisch Sprechende am ersten Satz erkannt und verspottet. Diese Spottlust über alles kontinental Spanische, Sprache, Gebräuche, Anschauungen und so fort charakterisiert überhaupt den Argentiner als Amerikaner [— S. 8 —] (man vergleiche damit das Verhalten des Nordamerikaners gegen Old England). Man liebt es dort sowohl unter sich als im Verkehr mit Ausländern, diese völlige, auch geistige Emanzipation vom spanischen Mutterlande, überall zum Ausdruck zu bringen. Der Argentiner will eben nur Amerikaner, durchaus kein Spanier sein. Man bewahrt der spanischen Mutter nur eine schwache, platonische und mit Mitleid vermischte Sympathie. Die Liebe zur eignen Heimat und der Stolz auf das unabhängige Vaterland tritt aber nicht nur darin zutage, sie zeigt sich überall in der Jugenderziehung, an den nationalen Festen, in der Ehrung der Helden aus den Freiheitskriegen, in der Namengebung der Straßen und Plätze, und häufig erregt ein gewisser Exzeß dieses Patriotismus, der in der verschwenderischen Ausgabe großer Summen für die äußere Form solcher Festesfeiern, der Illumination, der Bankette usw. zutage tritt, die Verwunderung des in solchen Dingen nüchterner denkenden Europäers. Seine Nationalfeste feiert jeder Argentiner mit ganzer Seele und einer naiven Genußfreudigkeit, um die man ihn fast beneiden möchte. Im Gegensatz dazu ist festzustellen, daß die Vertreter der Regierung selbst bei ihrem öffentlichen Auftreten in keiner Weise der Gegenstand lärmender Huldigungen von seiten der Menge sind, sie werden respektvoll, aber kühl behandelt. Im ganzen wird ja in der argentinischen, besonders der besseren Gesellschaft auf äußere Formen, auf das Zeremoniell, ungemein viel Wert gelegt, und doch vollzieht sich wieder der persönliche und auch der dienstliche Verkehr ganz ungezwungen, fast formlos und jedenfalls ganz frei von der Unterwürfigkeitsheuchelei des europäischen Beamtenstaates, so daß zu wünschen wäre, die Einfachheit und Würdigkeit dieses Verkehrs möge sich erhalten und verbreiten.

In der Gesellschaft selbst war und ist stets tonangebend der französische Geschmack. Paris ist das Ideal derselben, es herrscht unumschränkt in der Mode, in der Wohnungsausstattung, bei Tisch und im Salon, vor allem im Boudoir; das französische Coup des [— S. 9 —] Pariser Automobils allein gilt für voll. Es ist ja dies in ganz Südamerika überall so; Frankreich war eben seit Jahrhunderten der mächtigste, glänzendste, romanische Kulturstaat, alle angesehenen Familien hatten von jeher persönliche Beziehungen zu Paris, es erleichterte durch seine Sprache die Aneignung feinerer Bildung, französische Bücher bildeten stets und noch heute fast ausschließlich die Familienbibliothek. Die französische Revolution hatte den Anstoß auch zur Befreiung der südamerikanischen Republiken gegeben; so ist diese mächtige Sympathie erklärlich; sie erleichtert natürlich den Franzosen den Weg dort ungemein, und hätte die französische Politik nicht mehrere Unklugheiten begangen, und wäre der Franzose überhaupt werktätiger, so könnten Engländern und Deutschen manche Zugeständnisse verloren gehen. Die bisher rein französischen Gesellschaftsformen werden erst neuerdings durch das Eindringen mancher englischer Spezialitäten, wie des five o'clock, der garden party usw., erweitert. Ganz besonders aber wächst die Lust am angelsächsischen Sport in allen seinen Formen an. Pferderennen, Ballspiele aller Arten, Ringkämpfe, Wettläufe, Boxen usw. nehmen in der Gesellschaft und in der Zeitung neben der Politik den ersten Platz ein. Die Lust am Spiel, an Wetten, an Lotterien usw. zeitigt auch mancherlei Auswüchse. Der Argentiner ist von Natur gastfreundschaftlich und sehr gesellig, das bedingte schon das Leben auf den zum Teil weit voneinander entfernten Estancias; er hat außerdem den großen Vorzug, daß er auch ohne Alkohol in Gesellschaft sich Wohl und animiert fühlt; Surrogate dafür sind die Zigarette, der Kaffee, der Mate — von diesen hygienisch ja weit ungefährlicheren Genußmitteln wird unglaublich viel konsumiert. Der Alkohol aber ist als anregendes Medium bisher noch so wenig üblich, daß z. B. bei Studentenversammlungen Bier oder Wein überhaupt keine Rolle spielt. Das ganze deutsche Kneipwesen ist der argentinischen studierenden Jugend völlig unverständlich, ebenso auch der Mensurbetrieb, es wird aber viel und gut Florett und Säbel gefochten. Ich habe in vielen Jahren [— S. 10 —] täglichen Umganges mit Studenten nie einen alkoholisierten oder verkaterten Musensohn gesehen. (In den argentinischen Arbeiterklassen ist freilich auch der Alkoholismus ein häufiges, viel Elend verursachendes Laster [Fussnote]). Dagegen ist das Rauchen allerdings schon beim kleinsten Knirps etwas so Selbstverständliches, daß ein achtjähriger Junge ahne weiteres vom ältesten Herrn Feuer erhält. In der Gesellschaft Erwachsener aber ist ein anderes Stimulans vorhanden, das sich breit macht: die Politik. Ohne sie ist keine Herrengesellschaft denkbar, ja die Gesellschaft wird von vielen ausschließlich zu dem Zwecke, Politik zu treiben, aufgesucht. Nun ist dieses „Politik treiben" etwas ganz spezifisch Amerikanisches. Es handelt sich dabei nur ausnahmsweise um die Erörterung von Prinzipienfragen, von strittigen Anschauungen oder Auslegungen sozialer oder ökonomischer Dinge, sondern so gut wie stets um Personenfragen, um die geschäftsmäßige Abwicklung persönlicher Interessen, die durch den Staat befriedigt werden sollen. Die politischen Parteien Argentiniens sind mit Ausnahme der erst entstehenden sozialistischen Partei nicht die Vertreter bestimmter politischer, ökonomischer, sozialer Richtungen, sondern sie sind ihrer Mehrzahl nach politische Klubs, die einem Führer oder einer Gruppe durch dick und dünn folgen und die unter sich eine Art von Gegenseitigkeitsvertrag verbindet, der ihnen im Falle des Gelingens genau festgestellte Kompensationen garantiert. Auf dem Lande herrscht in dieser Weise der sogenannte „caudillo", eine typisch spanische Erscheinung, die durch ihre individuellen, pekuniären und sozialen Machtmittel nicht so selten die ganze politische Konstellation der Gegend ihrem Einfluß zu unterwerfen weiß. Dieser caudillo ist oft einflußreicher als die behördlichen Organe, er ist in der Auswahl der anzuwendenden Mittel keineswegs wählerisch, verteilt an seine Freunde die gewünschten Stellen, an seine Parteigänger die auszuführenden öffentlichen Arbeiten. Der politische Gegner (d. h. der Genosse eines anderen Klubs) wird somit natürlicherweise als der ärgste Todfeind be‑ [— S. 11 —] trachtet, für den ein Pistolenschuß jederzeit bereit ist. In der Hauptstadt ist diese urwäldliche Politik allerdings bereits einem verfeinerten Verfahren gewichen, und zwar je mehr der Einfluß der Presse, der öffentlichen Meinung und vor allem die Achtung und der Einfluß der ansässigen Fremden gestiegen ist. Doch zeitigt auch hier noch häufig der politische Parteihader, die Sucht, auch an die Staatskrippe zu gelangen, die merkwürdigsten Kontraste, die für den Fremden absolut unverständlich bleiben, bei dem Eingeweihten aber, je nachdem er Freund oder Feind ist, ein triumphierendes oder verächtliches Lächeln hervorrufen. Es wächst aber auch schon eine politisch unabhängige Partei heran, die sich gegen diese unwürdige Vermengung von Politik und Geschäft immer schärfer wendet. Hierher gehören ferner die spezifisch südamerikanischen Revolutionen. Es handelt sich regelmäßig nur um Putschversuche einer gerade zur Inaktivität verurteilten, in der Minorität befindlichen Gruppe, an deren Ausgang aber die Bevölkerung selbst nur ein sportliches Interesse nimmt. Meist ist die Sache nach Gewährung einiger Konzessionen erledigt, nie haben diese „Revolutionen" andere als rein lokale Bedeutung. In der Hauptstadt ist übrigens schon jetzt die Autorität der Staatsgewalt jedem derartigen Versuche gewachsen. Mit dieser ganzen kleinlich-partikularistischen Interessenpolitik wird erst dann aufgeräumt sein, wenn auch die ansässigen Fremden den ihnen gebührenden Anteil an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten erhalten werden, was nach dem Gang der Dinge nur eine Frage der Zeit ist, und einsichtsvolle argentinische Politiker denken bereits an die Lösung dieses Problems, dem allerdings chauvinistischer veranlagte Gruppen entgegenarbeiten; aber schon jetzt dürfte die Ausübung der politischen Rechte in der Hand der Minderzahl der Gesamtbevölkerung sich befinden, wobei wir die Qualitätsfrage noch gar nicht stellen wollen. Die wichtigsten staatsmännischen Aufgaben der argentinischen Republik, die auch größtenteils klar erkannt werden, sind: die Weiterausbildung eines geordneten Justiz- und [— S. 12 —] Verwaltungswesens, die Förderung einer moralisch und physisch gesunden Einwanderung, die Erschließung der wirtschaftlichen Produktionsquellen, die Zurückdrängung des provinzialen Partikularismus, die Arbeiterfürsorge und die Jugenderziehung.

Vollkommene Freiheit herrscht in Argentinien in religiösen Anschauungen. Wenn auch der Katholizismus als Staatsreligion gilt, so tritt doch das religiöse Moment im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben so vollkommen zurück, ist der Einfluß und das Ansehen des Klerus dort so gering, daß nur noch das Zeremoniell an die katholische Staatsreligion erinnert. Der Macht der Kirche ist die männliche Bevölkerung ganz entwichen, sie konzentriert ihren Einfluß ausschließlich auf die Frauen, die allerdings in den höheren Klassen noch in der extremsten Orthodoxie erzogen werden. Die Religion ist in Argentinien tatsächlich das, was sie überall sein sollte, eine reine Privatangelegenheit, und nie hat der Fremde ihretwegen das geringste zu erdulden — die eine oder andere Provinzialstadt vielleicht ausgenommen. Ebenso ergeht es dort dem Antisemitismus, der ja auch in Europa nur aus der historischen Entwicklung der Gesellschaft heraus begreifbar gemacht werden kann — in Argentinien ist er unbekannt und unverständlich. Überhaupt steht das Land ja jedem Fremden ohne weiteres offen, und findige europäische Gemeinden benützen diese Gastfreundschaft zuweilen, um ihren Invaliden eine kostenfreie dauernde Verpflegung und Behandlung zu verschaffen, denn in Argentinien geschieht die Fürsorge für den unbemittelten Kranken auf Kosten des Staates in der liberalsten Weise. Auf allen Gebieten hygienischen Fortschrittes, der Organisation des Krankenhauswesens, der praktischen Krankenfürsorge usw. wird überhaupt mit großem Erfolg gearbeitet. Wir sprachen oben schon von der wachsenden Bedeutung der Presse und kommen damit auf einen der wichtigsten Faktoren im intellektuellen Leben Argentiniens zurück. In der Tat drückt sich in der Tagespresse die Intensität des geistigen Lebens dort weit mächtiger aus als in der Gesellschaft, auf dem Katheder, [— S. 13 —] in der Veröffentlichung von Büchern und Fachzeitschriften. Alles drängt dort zur Tageszeitung, nicht nur der Politiker, die Gesellschaftsdame, der Sportsmann, der Künstler — auch der Techniker, der Jurist, der Arzt, der Gelehrte, vor allem der Literat gibt seine Leistungen unbedingt zuerst an die Zeitung, und großartige Presseunternehmungen unterstützen diese Tendenz. Die luxuriösen Zeitungspaläste enthalten tatsächlich alles, was das Publikum nur irgendwie benötigt, es stehen dort gratis zur Verfügung: Bibliotheken, Museen, Schreibstuben, Ärzte, Spezialisten aller Art, Juristen, Ingenieure geben jedem ihren Rat. Die Zeitung selbst enthält täglich das reichhaltigste Material zur Informierung und Belehrung, wissenschaftliche Abhandlungen, Reisebriefe, ständige zusammenfassende Übersichten von ausländischen Gelehrten und Schriftstellern, insbesondere aus Frankreich und Italien. Die telegraphischen Nachrichten sind überaus vollständig, die geringste Kleinigkeit aus dem europäischen Leben — wenn sie nur für das Publikum Interesse hat— wird per Kabel gemeldet. In diesem „wenn" steckt aber für uns Deutsche ein bitterer Kern. Der Argentiner interessiert sich für die ganze Welt, zunächst natürlich für Süd- und ganz besonders Nordamerika, für Frankreich, Spanien, Italien, für England, seine Kolonien, für Japan, wie gesagt, für die ganze Welt —  nur wir Deutsche stehen am letzten Ende dieser Reihe ! Und das kommt nicht daher, daß in Argentinien für deutsches Wissen und Können kein Verständnis, keine Bewunderung existierte: es existiert, aber es wird nicht öffentlich anerkannt, und wenn eine Nachricht durchaus nicht zu unterdrücken ist, so sorgt schon die Form der Wiedergabe für die nötige Abschwächung. Das verdanken wir natürlich unseren lieben Freunden, und so lange wir Deutsche uns mit dem bescheiden zufrieden geben, was die englischen, amerikanischen und französischen Kabel- und Presseunionen über uns zu melden für gut befinden, es ist herzlich wenig und kommt stets in der nötigen schiefen Beleuchtung schon von dorther, immer mit demselben Refrain, der lautet: „Deutschland ist der Störenfried", so [— S.  14 — lange wird dies auch nicht anders werden. Man hat in Deutschland keine Ahnung, wieviel uns diese Entente cordiale schadet! Über viele deutsche Einrichtungen ist man in Argentinien z. B. erst durch Huretsche Weisheit aufgeklärt worden, das Werk des Figarokorrespondenten über Deutschland ist vollständig in der Tagespresse veröffentlicht worden. Es ist wahrhaftig das stärkste Zeugnis für die Qualität des deutschen Imports, wenn er trotz dem allen sich Eingang verschafft hat. Aber auf die Dauer darf das nicht so weiter gehen, es wäre unseres Vaterlandes unwürdig. Dazu kann die deutsche Presse vor allem beitragen, indem sie ausführlichere Berichte über Land und Leute Argentiniens liefert, solche werden regelmäßig wieder hinübergekabelt und geben Anlaß zum Meinungsaustausch und so zum gegenseitigen Verstehen. Argentinien ist ja trotz seiner weltwirtschaftlichen Bedeutung auch bei uns im Inland noch so wenig gekannt, daß ich selbst, als ich vor zwölf Jahren den Ruf an die Universität Buenos Aires erhielt, zuerst anfing portugiesisch zu lernen und erst auf der Reise wahrnahm, daß ich den unrechten „Meyer" ergriffen hatte. Also beschäftigen wir uns mit ihnen, und es wird ihnen auch nichts anderes übrig bleiben. Des weiteren ist aber ein energischeres aktives Eingreifen von amtlicher und industrieller Seite unbedingt nötig, insbesondere müssen wir die Qualitäten dort bekannt machen, welche uns Deutsche auszeichnen: organisatorisches Verwaltungstalent und wissenschaftliche Methodik; beides fehlt drüben, und ferner müssen wir engere Fühlung zur dortigen Presse zu erreichen suchen, so wie es Engländer, Franzosen, Italiener schon längst fertig gebracht haben. An Zeitungen ist in Buenos Aires derartiger Überfluß, daß fast zu jeder Tagesstunde ein anderes Blatt erscheint; sehr beliebt ist die politische Karikatur, die literarische, vor allem aber die illustrierte Nachrichtenchronik, die allerdings in der Qualität häufig noch mangelhaft ist. Einige Kunstzeitschriften zeichnen sich besonders durch die Güte ihrer Bilder aus. Eines ist allen gemein: sie sorgen für die reichhaltigste Abwechslung [— S. 15 —] und der Drang nach Belehrung ist so lebhaft, daß auch Artikel ernsten Inhalts, wenn sie nur in der Form fesselnd sind, gern gelesen werden.

Die weit überwiegende Mehrzahl der Einwanderer sind Analphabeten, sie kommen ja aus den Kulturstaaten Spanien und Italien. So hat die argentinische Republik schon seit langer Zeit einen besonderen Ruhmestitel sich erworben, indem sie es versucht, wenigstens den Abkömmlingen derselben eine Elementarbildung zu verschaffen. Seit der Präsidentschaft Sarmientos werden jährlich Hunderte von Schulen allenthalben neu errichtet oder erweitert, und die Einsicht argentinischer Staatskunst hat in der Organisation des Schulwesens die genannten Mutterstaaten bereits entschieden überflügelt. Auch der Andrang zum Lehrerberuf ist stark, besonders allerdings von seiten des weiblichen Elements, was im Interesse der dort besonders nötigen Schuldisziplin — die große Masse der Schüler wächst in fast schrankenloser Freiheit auf — besser umgekehrt wäre. Die weiten Entfernungen auf dem Lande sind natürlich das größte Hindernis für die Durchführung des bestehenden Schulzwanges. An Mittelschulen ist ebenfalls kein Mangel, der Zudrang ist so groß, daß die Aufnahme und die unnötig reichlichen und komplizierten Examina immer mehr erschwert werden. Diese Schulen ähneln unsern Realschulen, das Lateinische ist in einer für eine Nation mit romanischer Sprache schwer verständlichen Weise ganz aufgegeben worden, Französisch, Italienisch, etwas Englisch lernen die Knaben rasch, auch sprechen, nicht nur übersetzen, wie bei uns, doch herrscht noch vielfach ein pedantischer Formalismus; in den Realien z. B. wird allzuviel Wert auf das mechanische Auswendiglernen der Regeln, statt auf Anwendung derselben in der Praxis gelegt: der alte pädagogische Fehler, der ja auch bei uns noch nicht überwunden ist. Des ferneren bringt die fortwährende Änderung der Lehrpläne durch fast jeden neuen Minister, der doch nur Dilettant ist, viel Mißliches hervor. Man will es noch immer nicht begreifen, daß die schönsten Reglements bei ungenügender pädagogi‑ [— S. 16 —] scher Vorbildung des Lehrerstandes wertlos, bei entsprechender aber überflüssig sind. Es existieren verschiedene technische, gewerbliche, landwirtschaftliche Fachschulen, an denen auch vielfach Ausländer, Italiener und Franzosen als Lehrer wirken, während deutsche Techniker hier leider sehr rar sind, hingegen können wir auf das seit einiger Zeit bestehende Pädagogische Seminar in Buenos Aires hinweisen, das ganz in Händen deutscher Lehrkräfte ist, aber erst zu kurze Zeit besteht, um allseitig anerkannte Resultate aufweisen zu können. Die Tätigkeit deutscher Instruktionsoffiziere in der Armee ist bekannt und geschätzt. Ungemein stark ist der Zudrang zu den Universitätsstudien, allerdings gerade am meisten zu den volkswirtschaftlich wenig produktiven der Jurisprudenz und Medizin. Es erklärt sich dies durch die hierbei rascher zu erlangenden materiellen Vorteile; der Erwerbssinn ist eben in Amerika von Jugend auf der leitende Trieb, der kleinste Junge erhält schon seine bestimmte Richtung hierin vom Elternhause her, der Student denkt nur an seine spätere Stellung und deren Verwertung, idealere Rücksichten werden kaum von ihm beachtet, aber eben deshalb arbeitet er auch weit energischer und zielbewußter als z. B. der deutsche Student. Es hat diese ganze Tendenz außer der materiellen auch ihre biologische Begründung: der Mensch reift dort schneller, seine Arbeitskraft erlahmt auch früher als bei uns. Zu einem richtigen, abgeklärten Lebensgenuß gelangt dort nur ein geringer Teil der Gebildeten. So ist es kein Wunder, wenn auch die Universitäten eben im wesentlichen auf die Erreichung eines gewissen Quantums technischer Kenntnisse in allererster Linie hinarbeiten, während alle weniger unmittelbar in materielle Rente umsetzbaren Fächer, die aber erst die Grundlage einer allgemeinen wissenschaftlichen Bildung garantieren, trotz aller Bestrebungen einsichtsvollerer Männer noch immer stark vernachlässigt sind. Die Mehrzahl der gebildeten Argentiner hält vielmehr solche systematische gründliche Allgemeinbildung humanistischer, biologischer und philosophischer Richtung auf der Universität nur für einen [— S. 17 —] Luxus, der zum Leben und zum Erfolg ganz unnötig ist. Aber doch existiert auch schon eine kleine, langsam anwachsende Gruppe von Männern, die, idealer veranlagt, erkennen, daß die Wurzeln der schöpferischen Kraft europäischer und ganz besonders germanischer Kultur eben darin beruhen, und daß ein selbständiges geistiges Schaffen in Argentinien auch nur dann zu erhoffen ist, wenn die Bildungsquellen vertieft werden. Eine große Zahl der Universitätslehrer hat ihre Ausbildung in Frankreich erhalten, alle haben wenigstens eine Zeitlang dort sich zu vervollkommnen versucht, sie haben es zu hoher Entwicklung ihrer Technik, ihres praktischen Könnens, zu literarischer Erudition gebracht — aber fast alle sind dabei stehen geblieben; zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit fehlt ihnen nicht das Talent noch die Arbeitsenergie, wohl aber der Sinn und vor altem die Basis der biologisch-humanistischen Gesamtbildung, es fehlt ihnen aber auch die Zeit, denn das Lehramt an den Hochschulen ist in Argentinien merkwürdigerweise stets ein Nebenamt, das man des Titels wegen begehrt, dem man aber nicht Leib und Seele widmet, wie es sich gehörte. So ist es erklärlich, daß die aufstrebende, äußerst intelligente studentische Jugend mannigfach, und gerade in ihren besten Elementen, bei ihrem Studium nicht die Befriedigung findet, die sie erstrebt; daß sie neuerdings häufig mit großer Anstrengung anfängt, das ihr schwer fallende Deutsch zu erlernen, um in deutschen Werken ihr Wissen vertiefen zu können; daß viele versuchen, auf deutschen Universitäten unmittelbare Anschauung der deutschen Arbeitsmethoden zu erhalten. Manchen gelingt's, die Mehrzahl bleibt aber schließlich doch in Paris hängen.

Es gibt in Argentinien zurzeit drei Universitäten, eine technische Hochschule, mehrere Veterinär- und agronomische Institute. An allen wirken deutsche oder deutsch-argentinische Gelehrte mit, deren unserem nationalen Wesen entsprechend geräuschloses Wirken und Schaffen nicht immer die verdiente Anerkennung und Beachtung weder drüben noch hier findet, und doch sind sie zusammen mit all den tüchtigen an den zahl‑ [— S. 18 —] reichen deutschen Schulen dortselbst wirkenden Lehrkräften die wahren und uneigennützigen Pioniere deutscher Kultur, die, deutsche Lehr- und Forschungsmethoden, deutsche Sittlichkeit und Disziplin verbreitend, den Ernteboden auch für die deutsche Industrie mit vorbereitete, wie sie ähnlich keine Nation der Welt irgendwo, am wenigsten aber in Argentinien besitzt. — Der jungen Universität La Plata ist das berühmte Museo de la Plata angegliedert, wo kostbare Schätze besonders geologischen und paläontologischen Materials in wissenschaftlicher Weise verarbeitet werden; auch hier wirkt eine ganze Reihe von deutschen und deutsch-schweizerischen Gelehrten, auf die wir stolz sein können. Ein hervorragender argentinischer Forscher, der jüngst verstorbene Paläontologe Ameghino, hat dort und im naturwissenschaftlichen Museum zu Buenos Aires anregende Arbeiten über den prähistorischen Menschen in Südamerika veröffentlicht. Der Schaffung von Volksbibliotheken wird großes Interesse entgegengebracht, dagegen ist für die richtige Organisierung von Laboratorien, den Stätten selbständiger wissenschaftlicher Arbeit, noch immer kein genügendes Verständnis vorhanden: alles, was auch nur im entferntesten an körperliche Mitarbeit erinnert, gilt eben noch vielfach als inferior, eines „argentinischen Übermenschen" nicht recht würdig, falls man nicht etwa viel Geld damit verdienen kann, dann allerdings! Das Ideal der dortigen Gelehrten ist die Synthese ; sie ahnen aber häufig nicht, daß man dazu nicht mit der Phantasie, sondern nur in mühsamer Analyse gelangt; alles Mühsame aber gilt als unfein: man erkennt darin noch das altspanische Urübel. So kommt es auch, daß von seiten der begüterten Familien für das materielle Gedeihen wissenschaftlicher Institute oder Arbeiten bisher noch nie auch nur das geringste getan worden ist, das Beispiel der großen nordamerikanischen Schwester ist ohne jede Wirkung geblieben, auch hier zeigen sich die Rassenunterschiede. Eingehende historische Studien über die politische Entwicklung Argentiniens verdankt man dem Fleiße des Generals B. Mitre [— S. 19 —] eines moralisch wie intellektuell gleich hervorragenden Politikers. Auch auf den Gebieten der pädagogischen, medizinischen, sozialen und biologischen Wissenschaften betätigt sich eine kleine Reihe von dortigen Gelehrten, von denen manche Namen auch in Europa bei ihren Berufsgenossen bekannt und geachtet sind. Bei den Schwierigkeiten, die sich in Argentinien derzeit noch allen Quellenstudien entgegenstellen, müssen diese Leistungen um so höher bewertet werden, eine eingehende Beherrschung der einschlägigen wissenschaftlichen europäischen Literatur zeichnet viele davon aus. Sehr bemerkenswert sind die Einrichtungen des botanischen und besonders des zoologischen Gartens Buenos Aires.

Am wenigsten produktiv sind bekanntlich die Amerikaner auf allen Gebieten des künstlerischen Schaffens; es scheint, als oh der so üppige Boden für diese zarteste Pflanze menschlicher Kultur die nötigen Fermente nicht besäße; in der Tat fehlt der Sinn für das Einfache und Natürliche, womit die sonst so reichlich vorhandene Phantasie die zauberischen Wirkungen echter Kunstleistungen erreichen könnte. Trotzdem wird die Kunst in allen ihren Formen dort immer höher bewundert, geschätzt und somit bezahlt; aber sie wird fast ausschließlich von Europäern ausgeübt, die auf allen Gebieten der Architektur, Plastik, Malerei, der Musik tätig sind. Wenn auch die französischen und italienischen Kunstformen dort von jeher die gewohnten und beliebten sind, so hat man doch auch an den Werken Wagners, seltener Beethovens und schließlich neuerdings an deutschen Operetten Gefallen gefunden, aber von einem inneren Verständnis für ernstere deutsche Kunst kann bisher noch nicht gesprochen werden. Auch in der Architektur, in der Plastik und jüngst in der Malerei haben deutsche Leistungen Eingang gefunden und überall, wo sich dieselben rein und selbständig gezeigt haben, ist ihnen Achtung und sogar Bewunderung nicht versagt worden. Hier auf dem Boden künstlerischer und wissenschaftlicher Leistungen hat denn auch die deutsche Kultur weiter zu arbeiten, hier kann sie der jungen argen‑ [— S. 20 —] tinischen Nation mehr geben, als andere Völker: neue Formen, neue Ideale, neue Arbeitsmethoden, neue Werte. Die argentinische Bevölkerung fängt in ihrem einsichtsvolleren Teil bereits an, sich darüber klar zu werden, daß die Zukunft ihres Vaterlandes eben in der harmonischen Verschmelzung der angestammten romanischen Kultur mit derjenigen der germanischen Nationen besteht, und daß eine gesunde, zukünftige geistige nationale Produktion in erster Linie aus der Befruchtung mit deutscher idealistischer Geistesbildung hervorzugehen bestimmt ist. Es gibt denn auch zurzeit kaum ein Land, wo romanische und germanische Kulturwerte in so innige Berührung treten, sich bekämpfen und doch gegenseitig fördern, als den politisch neutralen Boden der argentinischen Republik — auch dieser Kampf wird der Vater organischen Fortschrittes sein. — Welches sind nun die praktischen Ergebnisse unserer summarischen Übersicht, um Deutschlands Anteil zu mehren? Kurz gesagt folgende:

1. Entsendung nur reifer, vollgültiger Vertreter unseres Könnens und Wissens; denn in der Beurteilung unvollkommener Leistungen ist die argentinische Intelligenz und ebenso der Geschmack vollkommen kompetent.

2. Freimütige, uninteressierte Mitteilung unserer Arbeitsmethoden, unserer technischen Organisation — keine egoistische oder hochmütige Reservatpolitik —, sie ist undeutsch.

3. Volles und ganzes Eintreten für deutsches Denken — keine Kompromißpolitik, für die der Amerikaner nur Verachtung hat, wenn er sie am Fremden bemerkt.

4. Förderung guter Übersetzungen deutscher Werke ins Spanische, mehr Kontakt mit der Presse, mehr Beschäftigung mit Argentinien auch in unserer Inlandpresse.

5. Schaffung eines deutsch-südamerikanischen technisch-biologischen Instituts, das für die deutsche Wissenschaft und Industrie wie für die zu beteiligenden südamerikanischen Nationen eine Quelle reichen materiellen und ideellen Fortschritts werden würde.

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6. Aktive Unterstützung aller deutschen Schulen und Institute, eingehendere Würdigung ihres Schaffens, Gewährung von gesetzlichen Pensionen des Reichs an invalide Lehrer und Forscher und deren Hinterbliebene.

 

Mit all dem Ausgeführten habe ich Ihnen vielleicht nicht viel Neues gesagt, möge aber nur das klar geworden sein, daß auch da drüben eine Schlacht geschlagen wird, nicht mit Pulver und Blei, wo wir Deutsche Sieger oder Besiegte bleiben werden, und daß es ein „Zurück" da schon nicht mehr gibt: wir sind schon mitten im Kampf, unsere Ehre steht dort auf dem Spiel. Wahren wir unsere Güter und Rechte zum Wohl unseres Vaterlandes, zum Besten der mächtig aufblühenden argentinischen Nation, mit deren Männern so viele Deutsche aufrichtige Freundschaft, alle aber die Achtung und Bewunderung verknüpft, welche einem ganzen Manne, einem strebenden Volke gebührt.

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Published: 14 February 2008

 

 

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